Reinhold Wildner

Vom Wert der Werte

September, 2020

„Ideen“ sind nicht anerzogen, man kann sie nicht lehren, nicht erlernen, man kann sich ihrer nur er-innern“, lese ich bei Sokrates. Das Orakel zu Delphi gab auf die Frage „wer ist der weiseste Mann in Griechenland?“ folgende Antwort: „Sokrates ist es!“ Dieser zweifelte das Urteil ein Leben lang an und wollte im Dialog mit Menschen aller Kasten herausfinden, wer wahrhaft weise sei. Doch er fand bei seinem Gegenüber nur erlerntes Wissen. Da erkannte er: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“

Ideen sind Werte, schöpferische Strukturen, von ihren Gründern geboren. Durch den Wiederholungszwang der Überlieferung wurden sie nach und nach banal und dekadent. Die Asche wurde weiter gereicht, nicht das Feuer. Dennoch hielten die einst in das Gesetz gegossenen Regeln die blinde Wucht der Herde im Namen Gottes zusammen.

1789 wurden in der französischen Revolution die Werte der Monarchie nieder gerissen. „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ hieß das neue Feuer. Die Entfesselung der Masse hatte begonnen!

Im Rausch der Lustbefreiung trieben die bunten Kinder der Achtundsechziger den Aufstand der Erde weiter. Der Gott der Väter wurde vom Thron gestoßen.

„Das Jahrhundert des Nihilismus hat begonnen!“, schrieb Nietzsche in sein Notizbuch. Doch wer ertrug, wer erträgt die gottverlassene Leere? „Die Welt ist aus den Fugen geraten, verrückte führen Blinde!“ meinte Shakespeare und brachte diese auf die Bühne.

Und heute? Und wir?

Das Zeitalter der Psychopaten ist angebrochen. Sie müssen Grässliches tun, müssen Schrecken verbreiten, um in den Medien gesehen zu werden! Durch die blinde Nacht der Augen sind sie gekommen. Sie verstören, sie zerstören. Oder sie blähen ihr Ego narzisstisch auf und werden Politiker.

In der postkonventionellen Sinnleere gibt es keine Bindung mehr. Alles ist relativ, alles ist gleich-gültig, „alles fake“! Die Welt heute ist für manche der jungen Generation nur mehr Party! Andere schrecken zurück ins Mittelalter. Sie verteidigen und verbreiten ihren Gotteswahn fanatisch. Doch es gibt auch „Fridays for Future“, das weltweit wachsende Herz für das Klima unserer Erde. Und es gibt die wenigen, die Großen, die vorangehen!

Ich stehe als Psychotherapeut heute für „Werte“ ein. Wir erinnern uns wieder an sie. Zum Beispiel an den Wert der „Bindung“. Sie hält uns am Leben. Sie ist die Nabelschnur, das sehende Auge der Mutter, das sichere Seil am Berg.

 

Die „Ordnung“ fügt uns in das Miteinander. Sie gibt uns Heimat, Grenze, Orientierung in der Zeit und eigenen Raum. Der „Ausgleich“ macht ebenbürtig, er macht uns erwachsen und gerecht. Wir nehmen das Leben von den Eltern und geben es verantwortlich, liebend an unsere Kinder weiter.

Der „Sinn“ führt durch die Ohnmacht der inneren Wüste uns unbeirrbar heim. „War das alles?“ Woher- wohin- wozu? Leben ist Sinn, ist zur Feuerspur der Seele geworden.

Das „Ganze“: Raum und Zeit sind durch diesen Wert durchsichtig geworden – strahlende Gegenwart…! “Böse“ ist hier, wenn der Teil vorgibt, alles zu sein! „Gut“, wenn er allbezogen bleibt und – holographisch – das Ganze, im Teil.